Lawinenkatastrophe von Val d´Isere 1970

SarahS

Er hat Gänsehaut auf seinen Armen. Seine Stimme klingt unsicher. “Ich war dabei. Es war schrecklich, die Körper der jungen Leute, Kinder noch, wurden gegen die Wände des Speisesaals gedrückt. Die Lawine hatte die Fenster mit solcher Wucht durchschlagen.” Michel, der Schwiegervater unseres Bloggers Rogier, war am 10. Februar 1970 in Val d’Isère, um bei den Militärskimeisterschaften zu helfen. Zusammen mit seinen Kollegen wurde er dann zur Hilfe einberufen zu einer katastrophalen Lawine, die mehr als 40 Menschen das Leben kostete - eine Lawine, die die moderne Lawinenkunde und -forschung beschleunigte.

Das Wetter schien sich zu bessern

Michel fährt fort: "Es hatte ununterbrochen geschneit. Die Straße zwischen Tignes und Val d’Isère war seit dem 5. oder 6. Februar gesperrt. Ein Kleinbus war bereits von einer Lawine mitgerissen worden, die sich über die Straße ergossen hatte, doch am Morgen des 10. Februar schien das Ende des Unwetters in Sicht zu sein. Es schneite immer noch, aber die Straße war wieder frei. Die Pistenarbeiter waren damit beschäftigt, das Skigebiet zu öffnen, die Schneepflüge fuhren fleißig die Straßen ab.
Alle wollten unbedingt auf die Piste oder nach Hause fahren, nachdem sie vier Tage lang im Skigebiet “gefangen” waren. Während im Tal die Flocken friedlich dahinwirbelten, fielen in der Höhe allerdings weitere 60 cm Schnee bei sehr starkem Wind. Ein Rezept für eine explosive Lawine. Aber vor fast 50 Jahren gab es keine Lawinenberichte und keine Warncodes von Meteo France oder sonst jemandem.

08:10 Uhr morgens

Der Speisesaal der Union Nationale des Centres Sportifs de Plein Air, kurz UCPA - eine sozial organisierter Verband, die für französische Kinder und Jugendliche Sportreisen bis heute organisiert - war voll besetzt. Ein paar Jugendliche kamen zu spät und mussten ihr Frühstück in einem anderen Raum mit weniger Fenstern einnehmen. Das war ihre Rettung, wie sich später herausstellen sollte. Nach dem Grollen, das zunächst wie ein Erdbeben klang, traf eine Lawine das UCPA-Gebäude mit voller Wucht. Die dünnen und großen Fenster wurden, als wären sie nicht da, aus ihren Rahmen gerissen, und mit einem gewaltigen Schlag füllte die Lawine den gesamten Speisesaal innerhalb von Sekunden mit Schnee. Nach Angaben von Überlebenden schien es wie eine Explosion.

Retten und Bergen

So schnell wie möglich begann man mit der Suche nach Überlebenden. Pistenarbeiter, Feuerwehr, Polizei und Militär (das wegen des Skirennens bereits im Dorf war) machten sich sofort an die Arbeit. “Es war schrecklich”, wiederholt Michel. “Durch den Schlag wurden die Leichen durch den Speisesaal geschleudert und durch den enormen Druck zerquetscht. Der Schnee war überall, jede noch so kleine Ritze war ausgefüllt!”. Die Lawine hatte sich 800 Meter oberhalb des Dorfes gelöst und erreichte, laut Zeitungsberichten von damals, eine Geschwindigkeit von 150 Stundenkilometern, als sie das Dorf erreichte.
Im Speisesaal der UCPA kamen etwa dreißig junge Menschen ums Leben. Auf der Straße vor dem Gebäude wurden etwa zehn Personen von der Lawine überrascht, die meisten von ihnen Skilehrer und andere Mitarbeiter des Skigebiets. Keiner von ihnen überlebte. Später am Tag wurde in einer Lawine, die über die Straße von Tignes nach Val d’Isère gerutscht war, ein Auto gefunden. Der verletzte Fahrer konnte gerettet werden. Für den Beifahrer kam jede Hilfe zu spät. Noch am selben Abend wurden große Teile von Val d’Isère und Tignes evakuiert.

Neben der Kirche

Wenn du in Bergdörfern vor Lawinen sicher sein willst, lautet die Devise: Suche dir einen Unterkunft neben der Kirche. Oft ist das nämlich das alte Dorfzentrum, und diese hat man generell dort gebaut, wo man ab sichersten war, also genau dort wo die Gefahr von Lawinen am geringsten ist. Orte, die sorgfältig ausgewählt wurden, basierend auf jahrhundertelanger Erfahrung. Die UCPA war jedoch nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt und wurde trotzdem von der Lawine erfasst. Das lässt sich teilweise mit dem Bau des Skigebiets erkläre, denn die anderen Gegebenheiten am Berg führte auch zu einer veränderten Lawinengefahr. Bäume wurden gefällt und Dorf wurde immer dichter bebaut. Fünfzig Jahre vor dem katastrophalen Lawinenabgang war bereits eine andere Lawine durch die Straßen von Val d’Isère gefegt. Dabei gab es aber glücklicherweise keine Opfer, denn damals lebten weniger als 100 Menschen in dem Dorf, im Winter noch weniger.

Lawinen werden zum Thema der Politik

Es war eine nationale Tragödie, leider aber nicht die einzige. Zwei Monate später kamen in Haute-Savoie, auf dem Plateau d’Assy, 56 Kinder und 15 Betreuer ums Leben, als eine Schlammlawine ein Kinderkrankenhaus überrollte. Seither stehen Lawinen ganz oben auf der nationalen politischen Agenda.

Kartierung von Lawinengefahr

Frankreich war relativ spät dran mit der Erforschung und Prävention von Lawinen. In der Schweiz waren Vorläufer des modernen Lawinenlageberichts bereits seit den 1930er Jahren im Einsatz. Nach diesen beiden Lawinenkatastrophen im Jahr 1970 änderte sich die Situation in Frankreich rapide. Es wurde ein Forschungsbüro, die A.N.E.N.A. (Association Nationale Etude Neige et Avalanches), eingerichtet, das sich mit der Vorbeugung solcher Lawinenkatastrophen befasst. Auch Meteo France wurde mit der Kartierung der aktuellen Lawinengefahr beauftragt. Darüber hinaus wurde zum ersten Mal eine politische Diskussion über neue Gebäude in lawinengefährdeten Gebieten geführt. So sind seither alle lawinengefährdeten Stellen in den Tälern mit Farbcodes gekennzeichnet. Je nach Gefahrenlage werden Anforderungen an den Bau von Häusern und Unterkünften gestellt, und bei drohender Gefahr können schnellere und effizientere Evakuierungen in die Wege geleitet werden. Man hat viel dazugelernt über die Jahre. Heutzutage sind die Beurteilung und die Vorhersage der Gefahren viel besser und somit kann man bereits frühzeitig Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.

Nie vergessen

Heute, 54 Jahre nach diesen schrecklichen Lawinen, ist die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Lawinenabgänge dank der harten Arbeit von Spezialisten viel geringer geworden. Durch eine bessere Einschätzung der Lawinengefahr und durch den Bau von Lawinenzäunen, Dämmen und die Anpflanzung von Wäldern ist die Gefahr so gering wie nie zuvor, auch wenn die Natur nie gezähmt werden kann. Gegenwärtig kommen die meisten Lawinentoten bei kleineren Lawinen ums Leben, die (oft) von den Wintersportlern selbst ausgelöst werden.
Jetzt, da die großen Katastrophen in Vergessenheit geraten sind, werden die finanziellen Mittel von Meteo France, das aktuell die Lawinenberichte erstellt, und der ANENA (die Untersuchungen durchführt) gekürzt. Rogiers Schwiegervater ist verärgert darüber, dass der französische Staat bei der Lawinenforschung und bei Meteo France sparen will. Er sagt: "Ich denke, diese Lawine hat deutlich gemacht, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, was wir mit den Bergen machen, und dass wir nicht einfach alle Freiflächen im Tal bebauen sollten. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass diese Lawine mit dem heutigen Wissen vielleicht weitere Opfer verhindert hat. Aber wir müssen wachsam bleiben und dürfen diese schreckliche Tragödie nie vergessen.“

SarahS
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