Gletschermessung in Sölden

SarahS am 22 Oktober 2022

Ausmessung des Rettenbachfernes in Sölden
Ausmessung des Rettenbachfernes in Sölden

Im letzten Sommer war es in den Alpen extrem heiß. In der Schweiz erlebten wir den zweitwärmsten Sommer und in Österreich den viertwärmsten Sommer seit Messbeginn. Nach einem relativ schneearmen Winter bekamen die Gletscher die Hitze besonders stark zu spüren und sie wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Zum Glück hat sich im Hochgebirge mittlerweile wieder eine schützende Schneedecke gebildet und die Gletscherschmelze ist vorbei. Somit ist es immer im September an der Zeit, eine jährliche Bilanz der Gletscher aufzustellen. Ehrenamtliche des Gletschermessdienstes des Alpenvereins führen solche Gletschervermessungen jedes Jahr durch. Ende September war ich mit Matthias Plörer, Vorstand des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV) Sektion Innerötztal, unterwegs, um den Rettenbachferner in Sölden zu vermessen.

Was ist ein Gletscher?

Bevor ich näher auf die Messungen eingehe, möchte ich kurz erklären, was ein Gletscher ist. Ein Gletscher ist eine langsam fließende Eismasse, die sich in kalten Regionen bilden kann, in denen sich über einen längeren Zeitraum mehr Schnee ansammelt als schmilzt. Der gefallene Schnee bleibt also liegen und kann sich durch allmähliche Verdichtung langsam in Firn und dann in Eis verwandeln.

Wir Wintersportler kennen Gletscher natürlich vom Gletscherskifahren, aber die allermeisten Gletscher sind nicht mit Skiliften erreichbar. Die Gletscher, auf denen wir in Österreich Ski fahren, sind relativ klein und lassen sich an zwei Händen abzählen, während Österreich über 900 Gletscher hat.

Matthias Plörer, Vorstand des ÖAV Sektion Innerötzal
Matthias Plörer, Vorstand des ÖAV Sektion Innerötzal

Mehr als hundert Jahre Gletscherforschung

Schon bei der Gründung des Alpenvereins war die Gletscherforschung eines der Kernthemen. Im Jahr 1891 begann der Verein mit dem Sammeln von Daten über Gletscher und in den folgenden Jahren wurden die Gletschermessungen erheblich ausgeweitet. Mittlerweile sind es 20 Freiwillige, die sich jeden September aufmachen, um rund 100 Gletscher in ganz Österreich zu vermessen. Alle Informationen werden in einem jährlichen Gletscherbericht zusammengefasst.
Da die Gletscherschmelze bis Ende August erheblich sein kann, können die Messungen erst Anfang September beginnen. Normalerweise führt der erste Schnee im September in Verbindung mit der zunehmend schwächeren Sonneneinstrahlung zu einem deutlichen Rückgang der Eisschmelze. Matthias Plörer ist für die Messungen einer Vielzahl an Gletschern rund um Sölden verantwortlich. Ich konnte ihn Ende September einen Tag lang bei der Vermessung des Rettenbachferners, einem der beiden skifahrbaren Gletscher in Sölden, begleiten.

Die Gletschervermessung

Neben Längenmessungen führt der Gletschermessdienst des Alpenvereins auf einigen Gletschern auch Messungen von Fließgeschwindigkeiten und der Gletscherdicke durch. Darüber hinaus werden verschiedene Messungen und Forschungen an den Gletschern auch von anderen Einrichtungen, wie Universitäten, durchgeführt. Die Längenmessung eines Gletschers ist kein komplizierter Prozess, aber man muss sehr genau sein. Um ein repräsentatives Bild des Gletscherrückgangs zu erhalten, werden mehrere Stellen über die Breite des Gletschers gemessen. Menschliche Aktivitäten und Einflüsse, wie die Beschneiung des Rettenbachferners, sollten vom “natürlichen” Gletscherrückgang entkoppelt werden. An Orten, an denen menschliche Aktivitäten offensichtlich sind, wird nicht gemessen, da dies ein falsches Bild des tatsächlichen Geschehens vermitteln würde.

Zuerst wird einen Bezugspunkt (Marker) im Gelände benötigt. Mit einem Buchstaben werden die verschiedenen Markierungen eines Gletschers gekennzeichnet. Die Nummer des Markers gibt das Jahr an. A20 in der nachstehenden Abbildung ist zum Beispiel der Marker A aus dem Jahr 2020. Der Marker sollte natürlich auf einem festen Stein platziert werden, da natürliche Einflüsse wie ein schweres Gewitter oder eine Lawine dazu führen können, dass ein loser Stein herunterrollt oder seine Position verändert und so einen Messfehler verursacht.

Wichtig ist auch, dass im folgenden Jahr in die gleiche Richtung gemessen wird. Eine verzerrte Messung verursacht einen großen Messfehler. Die genaue Richtung wird deshalb mit einem Kompass (einer “Bussole”) festgelegt und anschließend notiert, damit die Messungen in den folgenden Jahren auch genau in dieselbe Richtung durchgeführt werden können. Um letztendlich feststellen zu können, wie weit sich der Gletscher zurückgezogen hat, werden vom Referenzpunkt aus Messungen mit einem Massband vorgenommen. Alle Messwerte werden notiert und dann wird ein Durchschnitt über alle Marker berechnet.

Herausforderungen bei der Messung

Das Messen an sich ist also nicht allzu kompliziert, aber die Bedingungen im Hochgebirge sorgen doch für einige Herausforderungen. Viele hoffen auf einen frühen Wintereinbruch, um bald wieder auf Skiern stehen zu können, aber dieser erste Schneefall im September macht es den Freiwilligen schwer, die Gletscher zu vermessen. So sehr die Freiwilligen auch hoffen, dass sich die Gletscher nur wenig zurückziehen, ein sonniger und schneefreier September hilft ihnen bei den Messungen. Schon 10 bis 20 Zentimeter (vor allem in Kombination mit Wind) können in hochalpinem Gelände für schwierige Bedingungen sorgen.

Darüber hinaus ist die Vermessung von Gletschern in den letzten Jahrzehnten aufgrund des Rückgangs immer schwieriger geworden. Auch Matthias hat während seiner Zeit als Freiwilliger große Veränderungen festgestellt. Einige Gletschermessungen wurden aufgrund des starken Rückgangs eingestellt. Andere Gletscher sind immer schwieriger zu erreichen und die Touren/Wanderungen zu ihnen dauern immer länger. Für Freiwillige wie Matthias, die die Gletschermessungen an Wochenenden neben ihrer Arbeit durchführen, ist dies eine zusätzliche Belastung, sicher hinsichtlich des engen Zeitrahmens in der die Messungen durchgeführt werden müssen. Am gut zugänglichen Rettenbachferner konnte man vor 10 Jahren noch innerhalb weniger Minuten vom Parkplatz aus auf den Gletscher gelangen, jetzt mussten wir eine knappe halbe Stunde durch den Schnee nach oben marschieren, um die Gletscherzunge zu erreichen.

Toteisfeld

Am Rettenbachferner ist mittlerweile ein Toteisfeld entstanden. Toteis ist Eis, das nicht mehr mit dem Hauptgletscher verbunden ist und sich nicht mehr bewegt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Eis komplett weggeschmolzen ist. Die Eismasse, die sich jetzt noch oberhalb des See befindet, ist vom Hauptgletscher völlig abgegliedert. Der Prozess einer solchen Abtrennung, dauert mitunter mehrere Jahre; der exakte Zeitpunkt wird in den Messungen des Alpenvereins deshalb nicht festgehalten. Aufgrund der Loslösung des unteren Gletscherabschnittes, sind wir also zur “echten” Gletscherzunge gewandert. Hier sollen ab dem nächsten Jahr Messungen durchgeführt werden. Wir setzen hierfür eine neue Markierung.

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Vergleich des Rettenbachferners zwischen 2011(links) und 2022(rechts) (Fotos: Matthias Plörer)

2022: Gletscher über 40 Meter zurückgezogen

Beim Rettenbachferners haben wir in diesem Herbst einen Rückzug von bis zu 40,90 Metern gemessen. In den letzten fünf Jahren betrug der Rückgang im Durchschnitt circa 16 Meter pro Jahr. Zwischen 1970 und 2019 hat sich der Gletscher insgesamt um etwa 480 Meter zurückgezogen, das sind durchschnittlich etwa 11 Meter pro Jahr. In den letzten 5 Jahren ist der Rettenbachferner damit um 45 % schneller zurückgegangen als durchschnittlich im Zeitraum von 1970 bis 2019. Das ist vor allem auf die letzten beiden Sommer zurückzuführen.

Jahr Rückzug (in Meter)
2018 5,9
2019 9,6
2020 3,8
2021 21,6
2022 40,9

Außerdem sind die Schwankungen von Jahr zu Jahr in den Messdaten gut zu erkennen. Das ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Zwei Hauptakteure dabei sind aber sicherlich die Temperatur im Sommer und die Schneemenge im Winter. Die Schneedecke des Winters und des Frühjahrs ist wie ein Sonnenschutz für den Gletscher im Sommer, sozusagen die „Sonnencreme“ für Gletschereis. Letztendlich ist jedoch der Sommer entscheidend, denn selbst nach einem schneereichen Winter kann ein extrem warmer Sommer eine starke Eisschmelze verursachen.

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Der Rettenbachferner im Jahr 2000 (links) und 2021(rechts) (Google Earth)

Die drei Pisten vom Seiterjöchl zurück zum Parkplatz. Die heutige Route zurück ist Nummer 3
Die drei Pisten vom Seiterjöchl zurück zum Parkplatz. Die heutige Route zurück ist Nummer 3

Große Auswirkungen auf das Skigebiet

In Sölden wird der Rückzug des Gletschers an mehreren Stellen schmerzhaft deutlich. Im Jahr 2011 konnte man den Gletscher noch 15 Meter von der Piste entfernt messen, wo heute das Förderband steht, und der Gletschersee in der Nähe des Parkplatzes hat noch gar nicht existiert. Innerhalb von 10 Jahren hat sich ein See in etwa der Größe von sechs Fußballfeldern gebildet.

Der rasche Rückzug des Gletschers führte auch dazu, dass die Skiroute vom Seiterjöchl zweimal verlegt werden musste. Auf der Abbildung sieht man, dass der Skiweg (Nr. 1) ursprünglich quer über den Gletscher in Richtung Weltcuphang führte. Heute ist dort nur noch Gestein. Nachdem immer mehr Felsen hervorragten, verlegte man die Piste viel tiefer, indem man ein Stück des Gletschers abfräste. Diese Route (Nr. 2) verlief oberhalb des Gletschersees, aber weil der See inzwischen so groß geworden ist und das Eis unter der Route instabil wurde, wurde im vergangenen Jahr eine weitere Verbindung (Nr. 3) gebaut. Jetzt führt die Piste nicht mehr über das Eis und endet kurz unterhalb des Parkplatzes. Ein Förderband bringt dich von dort aus wieder zurück zur Talstation der Gondelbahn.

Der Gletschersee mit Förderband, das von der Piste zurück zur Gondel führt
Der Gletschersee mit Förderband, das von der Piste zurück zur Gondel führt

Übersichtskarte der verlegten Pisten
Übersichtskarte der verlegten Pisten

Februar 2005: Die (noch nicht) verlegte Piste in besseren Zeiten
Februar 2005: Die (noch nicht) verlegte Piste in besseren Zeiten

Interventionen am Weltcuphang

Neben diesen Eingriffen waren in den letzten Jahren noch andere grundlegende Maßnahmen erforderlich, um den Weltcuphang zu retten. Ohne diese Maßnahmen wäre auch hier die Gletscherzunge längst verschwunden, was die Durchführung der Weltcuprennen im Oktober erheblich erschwert hätte. Durch Snowfarming, das Abdecken großer Teile der Piste mit Planen, kann ein Großteil des Schnees erhalten werden. Eine großartige Lösung für den kleinen Maßstab wie hier, aber die Abdeckung von Gletschern in großem Maßstab (nicht nur in Skigebieten) ist nicht möglich.

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Welche Auswirkungen hat der Rückzug von Gletschern?

Warum sind Gletscher und ihre Messungen so wichtig für uns? Zunächst einmal sind die Gletscher die sichtbarsten Indikatoren für den globalen Klimawandel. Außerdem sind die Gletscher für die Alpen wichtig für die Landschaftsgestaltung und den Tourismus, und für uns Wintersportler sind die Auswirkungen des Gletscherrückgangs offensichtlich. Da sich die Gletscher zurückziehen, wird mehr Schnee benötigt, um Pisten in dem unebenen und felsigen Gelände zu öffnen. Mancherorts müssen sogar Pisten aufgegeben werden. Aber das Problem geht weit über unseren Wintersport hinaus!

In den Alpen halten sich die direkten Auswirkungen noch in Grenzen, aber in anderen Gebirgsregionen kann der rasche Rückzug der Gletscher katastrophale Folgen für große Bevölkerungsgruppen haben. Gletscher sind zum Beispiel ein hervorragender Wasserspeicher gegen Trockenheit. Das Verschwinden dieses Puffers kann u. a. enorme Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben. Denke an den Himalaya, wo Millionen von Bauern vom Schmelzwasser der Gletscher abhängig sind. Außerdem führt die schnellere Eisschmelze zu einem immer stärkeren Anstieg des Meeresspiegels. Das Schmelzen der Gletscher ist die Hauptursache für den Anstieg des Meeresspiegels, wie aus dem IPCC-Bericht der die Ozeane und die Kryosphäre in einem sich ändernden Klima hervorgeht.

Gletscher und Polkappen haben auch einen großen Einfluss auf das Klimasystem, da sie unter anderem die Meeresströmungen beeinflussen und aufgrund ihrer weißen Oberfläche viel Sonnenstrahlung reflektieren (hoher Albedo-Effekt). Mehrere tipping points (Um-/Kipppunkte im Klima) hängen vom Zustand der Gletscher und Polkappen ab. Alles in allem ist es also wichtig, diesen Trend zu bremsen und zu einem Gleichgewicht zurückzukehren. Ein zusätzlicher Vorteil wird sein, dass wir Wintersportler die Gletscherpisten länger genießen können.

SarahS
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