Das vergessene Seilbahnunglück von Vaujany

SarahS am 14 Februar 2024

Nach dem Unglück hängt das Laufwerk, ohne Kabine am Kabel des Lifts...
Nach dem Unglück hängt das Laufwerk, ohne Kabine am Kabel des Lifts...

Das französische Dorf Vaujany hatte Ende der 1980er Jahre große Ambitionen. Der Ort mit etwas mehr als 400 Einwohnern wollte von der Skiindustrie profitieren. Der einfachste Weg war die Verbindung zum großen Nachbarn Alpe d’Huez. Die schnellste und längste Kabinenbahn der Welt würde den Weg zum weißen Gold eröffnen. Doch der Lifthersteller Poma, der sich den lukrativen Bau des der Seilbahn gesichert hatte, war in Verzug geraten. Die geplante Eröffnung zu Weihnachten 1988 war bereits verschoben worden, und nun wurde Tag und Nacht gearbeitet, um am 20. Januar 1989 eröffnen zu können. Pünktlich zu den Frühjahrsferien, aber eine Woche vor der Eröffnung, kam es zur Katastrophe.

Dramatischer Unfall

Freitag, 13. Januar 1989, es war dunkel. Acht Techniker fuhren mit der brandneuen Seilbahn Dôme des Petites Rousses hinauf. Jungs im Alter zwischen 18 und 31 Jahren. Kurz bevor der Lift die Bergstation Alpette erreichte, löste sich die Kabine vom Seil und stürzte zweihundert Meter in die Tiefe. Keiner der Passagiere hatte eine Chance. Die meisten der Rettungskräfte, die am Unfallort waren, wollen immer noch nicht über den Unfall und das, was sie gesehen haben, sprechen. In dem französischen Dokumentarfilm “Les Morts De L’or Blanc” (Die Toten des weißen Goldes) sagt der Vater des jüngsten Opfers, Stephan, mit Tränen in den Augen, dass er seinen Jungen noch einmal wiedersehen wollte. Was er sah, war kaum zu beschreiben.

Zerstörte Kabine nach dem Unglück (Quelle: Les Morts De L'or Blanc)
Zerstörte Kabine nach dem Unglück (Quelle: Les Morts De L'or Blanc)

Mechanisches Versagen der Seilbahn

Nach dem Unfall waren sich die Experten, die die Ursachen des schrecklichen Vorfalls untersuchten, bemerkenswert einig. Grundlegende Regeln der Mechanik waren verletzt worden. Das Material, aus dem die Aufhängung des der Kabine gefertigt und mit welchem sie befestigt wurde, war einfach nicht stark genug, um der Belastung standzuhalten. Poma machte offensichtliche Berechnungs- und Konstruktionsfehler, und die verwendeten Bolzen und Sicherungsstifte reichten nicht aus, um die Kabine zu halten. Dieses Fazit überraschte und ist äußert außergewöhnlich, denn normalerweise wird bei Seilbahnen und Liften sicherheitshalber „überdimensioniert“, die Lifte und Seilbahnen sind also normal so gebaut, dass sie mehr als nur die alltägliche Belastung aushalten.

Wie konnte es so weit kommen?

Um zu verstehen, wie es zu diesem Unfall kam, muss man bis zum Beginn der Industrialisierung des Skisports zurückgehen. In den 1970er und 1980er Jahren, den Jahren des planmäßigen Baus französischer Skigebiete, lebte man das Motto „the sky ist the limit“. Pierre Montaz, der Gründer des Liftherstellers GMM, sagte in einem Interview für das französische Fernsehen, dass es damals wirklich wie im Wilden Westen war. Das “Loi Montagne”, das französische Gesetz, das die Anforderungen an die Infrastruktur in den Bergen festlegt, gab es zu dieser Zeit nämlich noch nicht. So konnten Bürgermeister und Projektentwickler fast nach Belieben bauen, wie und wo sie wollten. Und das wurde auch getan. Frankreich war der Meinung, dass es Österreich und der Schweiz in Sachen moderner Skigebiete und deren Infrastruktur hinterherhinkte, und wollte um jeden Preis aufholen. Montaz zufolge rissen regelmäßig Kabel, und Seilbahnstützen (Pylonen) lösten sich aus dem Boden oder waren schief. In den 1970er und 1980er Jahren kam es bereits zu mehreren schweren Unfällen und sehr vielen „Beinahe-Unfällen“.

Die Staumauer, die Vaujany zum Reichtum verhalf. (Foto: EDF)
Die Staumauer, die Vaujany zum Reichtum verhalf. (Foto: EDF)

Vajauny wird auf einen Schlag stinkreich

Vajauny war jahrhundertelang ein kleines Dorf. Die Einwohnerzahl schwankte zwischen 300 und 400. Die meisten Einwohner lebten, wie in vielen Alpendörfern, von wenig Geld, das in der Forst- und Landwirtschaft verdient wurde. In den 1960er Jahren war das Dorf beinahe am Aussterben. Die Kleinbauern und Hirten konnten mit der industriellen Landwirtschaft in Zentralfrankreich nicht konkurrieren. Sie beschließen, ein paar Skilifte zu bauen, aber das kleine Skigebiet konnte mit dem großen Alpe d’Huez, das inzwischen immer größer und leistungsfähiger wurde, nicht mithalten. Aber es gab einen Hoffnungssschimmer: Das große französische Elektrizitätsunternehmen Electricité de France baute Ende der 70er Jahre einen Staudamm bei Vaujany. Dieser Damm bringt dem Dorf stolze 3 Millionen Euro pro Jahr ein! Auf einen Schlag wurde Vaujany zum reichsten Dorf Frankreichs, gemessen an der Einwohnerzahl. Dieses Geld eröffnete viele neue Möglichkeiten, der damalige Bürgermeister konnte plötzlich große Träume wagen.

Traumhafte Verbindung nach Alpe d’Huez

Mit dem Geld aus dem Staudamm konnten Investitionen ohne Nachzudenken getätigt werden. In kurzer Zeit wurden mehrere (für die damalige Zeit) hochmoderne Skilifte gebaut. Dies musste schnell geschehen, da das 1986 verabschiedete “Loi Montagne” die Genehmigung für den Bau von Skiliften zunehmend erschwerte. Daher war der Bürgermeister von Vaujuny sehr daran interessiert, die erträumte Verbindung nach Alpe d’Huez so schnell wie möglich zu sichern. Eine Verbindung, die 1,5 Millionen Skifahrer pro Saison befördern würde. Dies würde mit der größten, schnellsten und längsten Kabinenbahn geschehen, die je in den Alpen gebaut wurde. Ein für die damalige Zeit beeindruckende Seilbahn mit einer Geschwindigkeit von 12 Metern pro Sekunde, 4,3 km Länge und einer Kapazität von 160 Passagieren. Doch der Traum kostet: 30 Millionen Euro. Eine Menge Geld, selbst für das inzwischen steinreiche Vaujany.

Aber auch Alpe d’Huez war interessiert. Denn dieser Skiort war bereits an seiner Belastungsgrenze angelangt, und ein zusätzliches Dorf für mehr Touristen und Parkplätze war Musik in den Ohren des Bürgermeisters von Alpe d’Huez. Mit dem nötigen Druck von Alpe d’Huez gab der Präfekt von Isère in aller Eile die Genehmigung für den Bau des Lifts. Der französische Alpenverein und andere Naturschutzverbände versuchten mit allen Mitteln, den Bau zu verhindern. Die beiden Bürgermeister wussten bereits, dass ihr prestigeträchtiges Projekt in Frage gestellt werden könnte, so dass sie schnell handeln mussten. Die Folgen sind inzwischen hinlänglich bekannt. Im Jahr 1994 entschied das Gericht, dass diese Seilbahn niemals hätte gebaut werden dürfen. Aber weil es dann schon zu spät war und der Lift bereits stand, folgten keine Konsequenzen.

Das Laufwerk kurz nach dem Absturz nahe der Alpette Bergstation.
Das Laufwerk kurz nach dem Absturz nahe der Alpette Bergstation.

Poma verspricht das Unmögliche

Poma war fest entschlossen, dieses Großprojekt für sich zu gewinnen. Die französische Marke wollte auf dem internationalen Markt Fuß fassen und konnte ein solch prestigeträchtiges Projekt als Werbung nutzen. Poma wollte auch an seinem Image arbeiten, denn das war einige Jahre zuvor durch ein schweres Liftunglück in Les Orres, bei dem mehrere Kabinen abstürzten, stark beschädigt worden. Die Opfer verdankten ihr Leben damals der Tatsache, dass die Kabinen auf geparkte Autos fielen. Poma war also bestrebt, ein neues Großprojekt auf die Beine zu stellen. Neuer, größer, besser. Um sicherzugehen, dass sie das Projekt gewinnen würden, versprach der Lifthersteller, dass Das Projekt in nur 9 Monaten fertiggestellt sein würde. Also noch vor Weihnachten 1988. Andere Anbieter gaben an, sie bräuchten mindestens 2 Jahre für ein Projekt dieser Größenordnung.

Ein unbestreitbarer Konstruktionsfehler

Unmittelbar nach dem Unfall wurde klar, dass das Material und die Konstruktion nicht stabil genug waren. Ein eindeutiger Konstruktionsfehler. Die Ingenieure von Poma hatten bei ihren Berechnungen große Fehler gemacht. Wenn man alte Zeitungsartikel über diesen Unfall liest, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es stellte sich heraus, dass Poma das System der Kabinenaufhängung von einem Konkurrenten, der Schweizer Firma Habegger, kopiert hatte. Das Original wies aber bereits einige Konstruktionsfehler auf, die Habegger schnell korrigieren musste. Poma kopierte also ein fehlerhaftes System. Darüber hinaus nahm der Hersteller auch noch einige Anpassungen vor, die das gesamte Aufhängungssystem noch schlechter machten. Nach Ansicht der Sachverständigen, die den Unfall untersuchten, handelte es sich dabei um einen “unbestreitbaren Konstruktionsfehler”. Oder wie es einer der Angehörigen gegenüber Journalisten ausdrückte. “Die Frage war nicht, ob die Kabine abstürzen würde, sondern wann. Wäre es zwei Wochen später passiert, wären vielleicht 160 Menschen gestorben”.
Zusätzlich zu dem Konstruktionsfehler wurde festgestellt, dass die gebrochenen Bolzen nicht auf die Kraft getestet worden waren, die sie halten sollten. Ironischerweise ließ Poma kurz vor dem Unfall einen Dokumentarfilm über die unbestrittene Sicherheit der modernen Poma-Lifte drehen. In diesem Dokumentarfilm ging es aber hauptsächlich um die Belastbarkeit der Kabel.

Der Lift von Vaujany bis an die Spitze des Dômes des Rousses.
Der Lift von Vaujany bis an die Spitze des Dômes des Rousses.

Ängste bei den Lift-Technikern

Aber das ist noch nicht alles. Abgesehen von den Mängeln in der Konstruktion war es auch am Arbeitsplatz nicht einfach. Die Mitarbeiter beklagten sich über die hohe Arbeitsbelastung und die Techniker erhielten widersprüchliche Anweisungen. Die Atmosphäre am Arbeitsplatz wurde zusätzlich durch die schlechte Beziehung zwischen dem Geschäftsführer von Poma, Jean-Pierre Cathiard, und dem Chef des Skigebiets getrübt. Zu Hause erzählten die Techniker über die Angst, die sie vor dem neuen Lift hatten. Speziell Liftbauer. Der Aufzug machte seltsame Geräusche, und mehrmals mussten sie neue Tests durchführen, weil der Lift unkontrolliert über das Kabel gerutscht war. Im Nachhinein kann man sagen, dass mehr als genug Alarmglocken geläutet hatten.

Die Nachwirkungen

Nach dem Unfall wurden der Geschäftsführer und die Ingenieure von Poma mit Geldstrafen und Haftstrafen auf Bewährung bestraft (obwohl Poma versuchte, die Verantwortung auf einen Zulieferer abzuwälzen). Nach Ansicht der Angehörigen zu niedrig. Sie wollten auch, dass der französische Staat unter die Lupe genommen wird, weil dieser in seiner Aufsichtsfunktion versagt hat, so die Angehörigen. Auf den ersten Blick schienen die politisch Verantwortlichen entkommen zu sein. Später in den 1990er Jahren wurden die Bürgermeister von Alpe d’Huez und Vaujany wegen Korruption und Missbrauchs öffentlicher Gelder zu Haftstrafen ohne Bewährung (4 bzw. 2 Jahre) verurteilt.

Die Kabinenbahn Dôme des Petites Rousses in 2013. (Foto: Wikipedia/Arky)
Die Kabinenbahn Dôme des Petites Rousses in 2013. (Foto: Wikipedia/Arky)

Einwohner ziehen weg

Nach Angaben der Einwohner von Vaujany ist das Dorf seit dem Unfall nicht mehr dasselbe. Die meisten der ursprünglichen Bewohner sind weggezogen. Die Beziehungen im Dorf waren mit dem plötzlichen Reichtum und dem dramatischen Unfall zu sehr strapaziert worden. Auf dem Papier und vor allem wirtschaftlich, sieht das Dorf gesund aus, die Schule aber ist geschlossen, weil es keine Kinder mehr gibt. Die meisten Einwohner sind Saisonarbeiter oder ältere Menschen. Junge Familien können in diesem teuren Dorf kein Haus mehr kaufen. Im Nachhinein könnte man sich fragen, ob ein Dorf wie dieses, das nicht auf das Geld eines Skigebiets angewiesen ist, gut daran getan hat, koste es was es wolle versucht hat bei den Großen mitzumischen zu wollen. Der Staudamm hat mehr als genug Geld eingebracht; hätten es da nicht auch ein paar kleinere Lifte getan?

Der tabuisierte Unfall

Im Ort Vaujany erinnert nichts mehr an diesen traurigen Unfall. Ein kleiner Gedenkstein steht außerhalb des Dorfes.

C’etait un nuit -
C’etait beaucoup de bruit -
Puis.
Le Grand Silence -
(Es war eine Nacht- Es gab viel Lärm -Aschließend. Die große Stille)

Als ob sie den Unfall vertuschen wollten. Vielleicht logisch, denn niemand will an den tragischen Tod von 8 Lift-Arbeitern erinnert werden. Inzwischen hat Vaujany bereits zweistellige Millionenbeträge in neue, noch schnellere Lifte investiert, es gibt keinen Meter der Pisten, der nicht künstlich beschneit wird, und es wurde eine wunderschöne blaue Piste erschlossen, die bis hinunter ins Tal führt. Dank der Wasserkraft fließen noch immer jedes Jahr Millionenbeträge, die Vaujany zu einem sehr großen, reichen, aber auch sehr schönen Skigebiet machen. Eine der schönsten Ecken von Alpe d’Huez, die wo du ohne Unterbrechung und mit einem ungeheuren Höhenunterschied bis zum Pic Blanc Skifahren kannst. Hier zieht man es vor, sich auf noch mehr Wirtschaftswachstum zu fokusieren. An diese eine Nacht im Winter 1989 will man lieber nicht zurückdenken.

Quellen: Liberation, LeMonde, Wikipedia, France3, Ina.fr, documentaire Les Morts De L’or Blanc, remontees-mecaniques.net, Le Dauphine

SarahS
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