Das französische Appartement Dilemma - die Nachwehen der Betonrevolution

SarahS · bearbeitet am 07 Februar 2024

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Es ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Architekten Laurent Chappis und Maurice Michaud fliegen in einem Hubschrauber über das Tarentaise-Tal. Aus der Luft suchen sie nach Neuland, wo sie ein komplettes Skigebiet von Grund auf erbauen können. Planung statt Entwicklung, ein Skigebiet das am Reißbrett entworfen wurde. Außergewöhnlich und fremdartig zu dieser Zeit. Es war die Geburtsstunde von Courchevel, dem ersten gänzlich geplanten Skigebiet in Frankreich. Und viele weitere folgten. Jahrzehnte später spricht man jedoch von Vergewaltigung der Landschaft und klaustrophobischen Ferienwohnungen. Was ist schiefgelaufen?

Der große 'Plan Neige’

Obwohl die geplante Geburt von Courchevel als Skigebiet ohne zuvor bestehendes Bergdorf bereits im Jahr 1946 bewundert wurde, stand die eigentliche Premiere erst noch bevor. Diese kam erst mit dem “Plan Neige”, einem offiziellen staatlichen Projekt, das 1964 das Licht der Welt erblickte. Die sozialistische Regierung wollte den Wintersport für die Massen ermöglichen. Das Ziel war klar formuliert: gemeinsam mit Verbänden und Reiseanbietern ein Konzept von hochgelegenen, hochfunktionalen Skidörfern erarbeiten. Alles zum Wohle des Skifahrens. Mit der vertikalen Bauweise sollen neue, äußerst leistungsfähige Skigebiete entstehen, die auch ausländische Wintersportler anziehen werden. Es wurden vor allem hoch gelegene Täler - Oft standen in den Hochlandtälern nicht mehr als ein paar Sommerhütten - ausgewählt, um den Besuchern eine absolute Schneegarantie bieten zu können. Denn auch damals gab es Jahre, in denen der Skibetrieb in den unteren Tälern “gerade so” möglich war. Die französische Regierung half den Investoren mit billigen Krediten und dank Unterstützung aus Paris war es relativ einfach, die Landbesitzer zu enteignen. Alles für das weiße Gold. Gebiete wie Val Thorens, Les Menuires, Flaine, Les Arcs, Tignes, SuperDévoluy und Avoriaz wurden geschaffen. In anderen bereits bestehenden Dörfern schossen Ferienkomplexe aus dem Boden, voll mit kleinen Appartements.

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Le ciel était la limite

In den Skigebieten stieg die Zahl der Skifahrer jedes Jahr, die Sozialisierung des Wintersports schien eine Tatsache zu sein. Schnee erhielt den Spitznamen “das weiße Gold”. Zwischen 1964 und 1977 wurden insgesamt 150.000 Betten nach dem Konzept des Plan Neige gebaut, geplant waren bis zu 350.000! In zwanzig Jahren, von 1965 bis 1985, hat sich die Zahl der Skifahrer in den französischen Skigebieten bereits vervierfacht. Die Besucherzahlen waren überwältigend. Fortan kamen im Winter mehr Skifahrer ins Tarentaise-Tal - in dem viele der genannten Skigebiete liegen - als Menschen im gesamten Departement leben! Allein auf das Departement Savoie, in welchem das bebaute Tal liegt, fallen etwa 80 Prozent aller jährlichen Wintersporttouristen Frankreichs. Der Plan Neige schien aufzugehen. Ein weiterer Vorteil war, dass die oft stark umweltbelastende Industrie in den Tälern durch den Wintersporttourismus als wirtschaftliches Standbein ersetzt wurde.

Keine Marktforschung

Bis 1971 wurde der Plan Neige sechsmal umgeschrieben. Die Idee des Bauens blieb jedoch die gleiche. Doch mit diesem “Plan VI” mischte sich die französische Regierung noch mehr ein als zuvor. Ohne öffentliche Debatte, ohne Marktforschung und in der Überzeugung, dass Frankreich die schönsten Skigebiete der Welt baut. Es wurde erwartet, dass die Sozialisierung des Wintersports mit großen Schritten voranschreitet. Jeder würde Wintersport treiben, aus allen Schichten der Bevölkerung. Der subventionierte Betonmischer lief also auf Hochtouren. Dieses Verhalten sorgte für viel Unmut in den Bergtälern, wo Land enteignet wurde und Natur und Kultur völlig missachtet wurden. Technokratie in Reinkultur. Der Widerstand wuchs; mehr gegen die Arroganz des Staates als gegen den Bau der Skigebiete selbst. Denn auch die Einheimischen verdienen natürlich gutes Geld am Tourismus. Die Leute wollten also mehr Mitspracherecht. Es gab einige Beschwerden. Auch von Seiten der Besucher. Denn in einem kleinen Ferienappartement zu wohnen, in dem man sein Omelette du fromage auf dem Bett sitzen zubereiten muss, trifft nicht die Vorstellungen eines echten Traumurlaubs.

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Der Einwand des Präsidenten

1977 schaute der damalige Präsident Valéry Giscard d’Estaing von dem authentischen und schönen Bergdorf Vallouise aus auf die vertikale Konstruktion des Puy Saint Vincent auf der anderen Seite. Es war ihm ein Dorn im Auge geworden. In einer kämpferischen Rede, die später als “Discours de Vallouise” bekannt werden sollte, forderte er den Stopp des industriellen Plan Neige. Es muss ausgewogener sein, mit mehr Respekt für die Umwelt und lokale Werte. Ein Beispiel für diesen neuen Stil ist das Dorf Saint Martin de Belleville, unter dem Rauch der betongefüllten Les Menuires. Die Fortführung des Plans zu verhindern war der rettende Schachzug, denn heutzutage spricht man wieder sehr positiv über französische Skigebiete: schöne sportliche Pisten, weitläufige Areale und Schneesicherheit. Von den berüchtigten Skidörfern mit ihrer vertikalen Bebauung ist man allerdings weit weniger begeistert.

Dezentralisierung

Obwohl sich der französische Präsident negativ über das vertikale, urbane Bauen äußerte, dauerte es einige Zeit, bis die Betonschlacht wirklich aufhörte. Dafür müssen wir wieder einmal auf die nationale Politik schauen. Um 1980 begann der französische Staat, der bis dahin sehr zentralistisch regiert hatte, immer mehr Macht an Kommunen und Gemeinden zu übertragen. Die Dezentralisierung wurde in die Tat umgesetzt. Das Wintersportgeschäft in der Tarentaise lief aber immer noch auf Hochtouren. Die Bürgermeister anderer kleinerer Bergdörfer sahen diesen Erfolg und übernahmen die Bauweise, in der Hoffnung auf ebenso großen Erfolg. Es wurde viel Geld in die Hand genommen, oder besser gesagt geliehen. Die riesigen Betonbunker nachzubauen war allerdings alles andere als schlau. Der Markt wuchs nicht mehr und eine Reihe von schneearmen Jahren führte dazu, dass viele Gemeinden völlig pleite waren. Das Geld wurde nicht so schnell verdient wie erhofft, und die Wohnungen wurden mit Verlust verkauft. In vielen Alpendörfern zahlt die Bevölkerung noch heute saftige Steuern für den Baueifer der damaligen Bürgermeister.

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Gekauft und verkauft

Viele der neuen Gebäude - vor allem aus der Plan Neige-Ära - wurden mit der Philosophie gebaut, dass jeder, ob arm oder reich, den Wintersport genießen können sollte. Die riesigen Resorts wurden daher von großen Unternehmen aus dem halbstaatlichen Sektor gekauft oder gebaut. Wie z.B. EDF (Energieunternehmen), France Telecom (Telekommunikationsunternehmen) und die SNCF (Eisenbahngesellschaft), die ihren Mitarbeitern auf diese Weise einen Urlaubsplatz anbieten konnten. Natürlich haben auch große Reiseanbieter wie UCPA und Pierre & Vacances die übrigen Türme aufgekauft. Der Rest kam auf dem privaten Markt.
Die Verwaltung und Instandhaltung von Unterkünften in Wintersportgebieten sind nicht billig. So entschieden sich viele Unternehmen in der ersten Krise, ihre Wohnungen zu verkaufen. Die Eigentumsverhältnisse wurden noch stärker zersplittert. In Tignes zum Beispiel ist die Hälfte aller 31.000 Touristenbetten in privater Hand. In vielen der großen Plan Neige-Gebiete sehen wir ein ähnliches Bild. Das schafft im Moment eine enorm schwierige Situation. Es gibt zwei große Probleme:
Erstens haben die Skigebiete selbst nur teilweise Kontrolle über den Vermietungsmarkt und es ist schwierig bis unmöglich, sich mit den Anbietern abzustimmen. Einfach weil es zu viele Eigentümer gibt. Das bedeutet auch, dass viele Wohnungen nicht so oft vermietet werden, wie sie sollten.
Und zweitens kann das Skigebiet wenig für den Zustand, das Aussehen und die Instandhaltung der Wohnungen tun. Ein entscheidender Faktor für das Image des gesamten Skigebietes, denn wenn die Unterkünfte in einem schlechten Zustand sind, wird der Traumurlaub zum Horrortrip. Niemand möchte einen Balkon voller Unrat in seiner gebuchten Ferienwohnung vorfinden. Verglichen mit der zuverlässigen Sauberkeit in Österreich oder der Schweiz, fällt die Wahl der Skiurlaubs dann wohl eher nicht wieder auf Frankreich.

Cleveres Belohnungssystem

Die größeren Skigebiete ergreifen bereits Maßnahmen. In Val Thorens zum Beispiel kann man sehen, dass in den letzten Jahren alle Gebäude mit Holz verkleidet wurden und nur noch Gebäude im Chalet-Stil erlaubt sind. In Alpe d’Huez tarnt man auch den Beton. Aber das ist nur die Außenseite. Im Inneren sind viele Privatwohnungen noch ziemlich abgenutzt und längst renovierungsbedürftig. Tignes hat im Jahr 2004 die aktiv etwas gegen den Zunehmenden Verfall übernommen. Erstens stellten sie finanzielle Mittel zur Verfügung, um Eigentümern bei der Renovierung zu helfen. Das hat aber keinen Sinn, wenn die Unterkünfte nur für ein paar Wochen im Jahr von den Besitzern selbst genutzt werden. Deshalb bietet Tignes mittlerweile auch ein Belohnungssystem für Hauseigentümer, die ihre Unterkünfte vermieten. Dazu gehört der Zugang zu Wellness, Fitness, Schwimmbad, kostenlose Skipässen und kostenlose Parkplätze. Je mehr Wochen das Appartement vermietet wird, desto höher ist die Belohnung. Und es war erfolgreich. Während im Jahr 2005 die Auslastung der privaten Betten bei 22 Prozent lag, stieg der Anteil 2014 bereits auf 32 Prozent. Andere Gebiete sind diesem Beispiel inzwischen auch gefolgt.

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Wie groß ist das Problem?

Für viele Menschen ist Frankreich immer noch für seine urbanen Hochhäuser bekannt. Insgesamt verfügt das Land jedoch über 325 Skigebiete, von denen nur etwa 20 aus der ersten Generation des Plan Neige stammen und weitere etwa 20, die noch Spuren davon tragen. Das bedeutet, dass etwas mehr als 10 Prozent der französischen Skigebiete echte Betonbunker sind. Der Rest ist weit weniger systematisch und nicht nach dem Vorbild einer Planstadt errichtet. Diese sind jedoch weniger bekannt. Das ist natürlich nicht verwunderlich: Die Plan Neige-Gebiete sind groß, beherbergen eine extrem hohe Anzahl von Unterkünften und bieten all das manchmal zu absurd niedrigen Preisen. Das macht sie bei der breiten Öffentlichkeit sehr beliebt. So ist das Klischee der französischen Betonwelten entstanden. Aber das ist trifft natürlich nicht auf alle französischen Skigebiete zu. Es sind lediglich die unglücklichen Nachwirkungen einer sozialistischen Utopie, die die gesamte französische Wintersportindustrie noch immer plagen.

Nicht nur Schwarzmalerei

Aber auch in diesen Betondörfern ist nicht alles schlecht. Heute werden die charakteristischen Gebäude, die oft von berühmten Bauhaus-Architekten entworfen wurden, zunehmend für ihre Form gelobt. Einige haben sogar Denkmalstatus erlangt. Der größte Teil der älteren französischen Appartements ist zwar nicht groß. Dafür mittlerweile aber in gutem Zustand und sie werden von Saison zu Saison schöner. Worüber sich Freund und Feind auch einig sein müssen, ist, dass französische Skigebiete super effizient sind. Nirgendwo wird Ski-in-Ski-out so perfekt umgesetzt wie in den französischen Alpen. Außerdem ist man fast überall in sehr schneesicheren Höhenlagen, vom Anfang bis zum Ende der Saison. Hinzu kommt, dass die modernen Unterkünfte viel geräumiger und luxuriöser sind als Gegenreaktion, und damit hast du ein perfektes Urlaubsziel. Vielleicht hat der Plan Neige jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, mit einigen Kopfschmerzen, sein Ziel erreicht. Wintersport für alle möglich machen, egal was sie wollen.

SarahS
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